Trauer ist eine schlimme Herzensangelegenheit, bei welcher die Seele tief verletzt ist. Und damit unsere Seele wieder gesund ist, müssen wir trauern dürfen. Viele Menschen trauern nur kurz, oberflächlich, gehen dann zum geordneten Alltag über, und plötzlich, nach Jahren kommt die Trauer wieder hoch. Solche post-traumatischen Verhältnisse, Erfahrungen und Erlebnisse können uns krank machen, den Alltag auf den Kopf stellen, uns an eine Burnout-Klinik fesseln, oder sie können hilfreich sein, damit man den unsichtbaren, verdrängten, tief im Inneren sitzenden Schmerz endlich einmal behandelt und auskuriert.
Als mein Bruder starb, war ich 13. Ich durfte nicht trauern, weil dies für meine Familie eine Unsitte war. Ich musste funktionieren, musste einen Tag nach seinem Tod wieder zur Schule gehen, und einer meiner Brüder meinte, wenn ich jetzt heule und mich zurückziehe, schiebt man mich in die Psychiatrie ab, aus welcher ich nie wieder herauskommen würde. Ich schluckte meine Tränen hinunter, ging zur Schule, versuchte zu lernen, aber ich ertrug das Gelächter der anderen Schüler nicht. In den Pausen suchte ich Zuflucht am Klo, denn dort konnte ich leise in mich hineinheulen. Nach der Schule ging ich in den Wald und heulte weiter, aber meine Trauer durfte ich niemandem zeigen.
Mein Vater brach eines Tages zusammen und ging auf Kur. Und meine Mutter sagte zu mir: Warum bist nicht du gestorben, warum ist dein Bruder gestorben, er hatte das ganze Leben vor sich. Ich ging einkaufen, besorgte die Lebensmittel, stumpfte ab, erlor fast alle meine Frreunde, und ich war einsam. Und wenn man meine Familie und dessen Familienverhältnisse kennt, dann weiss man, das war ganz normal.
Die Leute gaben mir am Friedhof die Hand, kondulierten, umarmten meine Eltern, aber mich umarmte niemand. Nach drei Monaten kondulierten mir immer noch Leute, sogar durchs offene Autofenster, wenn ich im Wagen sass und auf meinen Vater wartete. Nach einem Jahr gewöhnte ich mir eine Art Galgenhumor an, der mich vor Schlimmerem bewahrte, beendete die Schule, ging aufs Gymnasium, verliess meinen Heimatort, so schnell ich konnte, und so schnell mich meine Füsse trugen, und ich kam nie wieder zurück, bis heute nicht. Hin und wieder besuche ich meinen Bruder am Familiengrab, in welchem bereits die nächsten Familienmitglieder liegen, aber ich durchschreite meinen Heimatort niemals mehr, nicht ohne meinen Anwalt.
Meine nicht ausgelebte Trauer begleitete mich durch mein Leben, bis jetzt, denn heute schreibe ich diesen iefen Schmerz nieder. Ich war eine ausgezeichnete Schülerin, hatte nur 1er im Zeugnis, bis zum Tod meines Bruders, danach sackte ich notenmässig ab, aber das kümmerte weder meine Familie, noch meine Lehrer. Ich machte trotzdem mein Abitur, auch wenn niemand daran glaubte, und ich ging dann meinen Weg. Das Verhältnis zu meiner Mutter und meinem Bruder ist bis heute instabil, kalt, kaum vorhanden, aber trotzdem telefoniere ich oft mit meiner Mutter, weil ich mich irgendwie schuldig fühle, wenn ich es nicht tun würde. Ich zeige ihr die kalte Schulter, lasse ihre Gemeinheiten gefühlskalt an mir abprallen und werfe ihr witzlose Galgensätze entgegen. Neulich meinte sie, aus meinem Cousin Bernd ist ein excellenter Arzt geworden, und aus mir ist nichts geworden. Daraufhin meinte ich, dass ich diese Tatsache in einer meiner nächsten Ratgeber berücksichtigen werde und darüber berichte.
An meinem Beispiel kann man schön sehen, dass auch Kinder und Jugendliche trauern müssen, dass man sie nicht vergessen darf. Wenn ein Kind nicht trauern darf, verkümmert seine Seele im Erwachsenenalter. Und wenn ein Erwachsener nicht trauern darf, kann er eines Tages nicht mehr heulen, wird zum Soziopathen, oder er rennt ständig am Leben vorbei.
Trauer ist eine individuelle Sache, und so sollte jeder so trauern dürfen, wie er es für richtig hält. Manche Leute trauern Jahre, manche sind mit ihrer Trauerarbeit innerhalb weniger Monate fertig. Und es kommt auch darauf an, ob man ein emotionaler oder ein sachlicher Mensch ist, denn die emotionalen Leute brauchen oft mehr Zuspruch.
Ein etwas makaberes Thema ist die Trauer im Internet. Hierfür existieren Internetportale mit virtuellen Friedhöfen, die dazu dienen, von zu Hause aus die Toten zu besuchen und virtuelle Kerzen anzuzünden. Auch Onlineportale, auf denen sich Trauernde austauschen können, damit die Trauerarbeit leichter fällt, sind beliebt. Dies sind wahre Schätze im Internet, denn nicht jeder Mensch will in seiner tiefsten Trauer aus dem Haus gehen. Psychologische Beratungsportale sind auch interessant, denn hier bekommen Betroffene Hilfe. Oft ist die Traurigkeit so schwer zu ertragen, dass man Hilfe braucht, um alles zu überstehen, besonders dann, wenn nahe Angehörige, Kinder, Eltern, Geschwister, enge Freunde und Verwandte versterben.
Wie sieht es aber mit der öffentlichen Trauer auf sozialen Netzwerken aus? Hier übersteigt die Trauerarbeit eine Grenze des guten Geschmacks. Die sozialen Kontakte fühlen sich bedrängt, Kondulenzwünsche zu äussern, es ist alles sehr unpersönlich, und meiner Meinung nach gehört so ein intimes Thema nicht auf Facebook und Co gepostet.
Als ich immer wieder Leute entdeckte, die öffentlich den Tod von Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen, dem Chef, sogar fernen Bekannten öffentlich zur Schau stellten und ihre Trauer auf dem Präsentierteller zeigten, wollte ich wissen, was dies für Leute sind. Psychologen sagen, es sind extrovertierte Menschen, die eine gewisse Geltungssucht haben, die Aufmerksamkeit wollen, und durch das Posting geniessen sie die Bemitleidung der Freunde. Manche leben die Kondulenzen richtig rituell aus, antworten auf jeden Kondulenzspruch und zeigen, wie traurig sie sind. Wenn man bedenkt, dass richtige Trauer ein tiefes Schmerzgefühl auslöst, fast wortlos macht, so könnte man die öffentliche Schau-Trauer in den sozialen Netzwerken förmlich als psychische Störung einordnen. Man nötigt hier virtuelle Freunde, Abonnenten und fremde Leser dazu, mitzutrauern, auch wenn man den Toten gar nicht gekannt hat. Eine Psychologin nannte dieses Phänomen Narzissmus. Ich denke, wenn man ehrlich trauert, teilt man seinen Schmerz mit wenigen engen Freunden offline, weil die wirklich traurige Seele öffentliche Posts verabscheut. Und trotzdem denke ich, dass auch die Extrovertierten einen Platz brauchen, um zu trauern. Vielleicht sollten sie jedoch ihre Trauerpostings nur den privaten Freunden im Netz zukommen lassen und nicht alles öffentlich posten.
Wie kann man mit Toten sprechen, mit geliebten Verstorbenen Kontakt aufnehmen, in Verbindung treten? Es gibt Hilfe, beispielsweise durch ein Medium. Hier muss man allerdings die Spreu vom Weizen trennen, da es Menschen gibt, die als Vermittlermedium arbeiten, jedoch keinerlei Kräfte besitzen, mit den Toten in Kontakt zu treten. Da zahlt man bloss Geld für ein Schauspiel. Es gibt spezielle Smartphones, die dem Verstorbenen mit ins Garb gegeben werden, und man kann mit speziellen Handy-Apps seine Lieben im Jenseits kontaktieren, ihnen die News des Tages erzählen oder sie am irdischen Leben teilhaben lassen. Wer Rituale liebt, für den gibt es spezielle Kontaktrituale, mit denen man die Toten spüren lernt.
Was ist ein Death-Cafe, und wer trifft sich dort? Es ist ein Kaffeehaus, in welchem sich Trauernde, Hinterbliebene, aber auch ganz unbeteiligte Menschen, die nicht viel mit Verstorbenen zu tun haben, weil sie noch niemanden bestatten mussten, weil in ihrem Leben noch keiner gestorben ist, treffen, um über den Tod zu diskutieren. Hier spricht man offen übers Sterben, über das mögliche Leben nach dem Tod, über die Bestattungsmöglichkeiten und Beerdigungsrituale. Jeder darf zu Wort kommen und sich über den Tod äussern.
Wir bekommen das Leben geschenkt, müssen uns durcharbeiten, durchkämpfen und es erleben oder es durchleben, und der Tod ist einerseits eine Bezahlmethode, denn man bezahlt mit dem Tod fürs Leben, oder er ist andererseits eine Erlösung, denn man wird vom Leben erlöst, je nachdem, wie man es auslegt. Leidende Menschen sehen im Tod oft eine Erlösung, besonders dann, wenn sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Fröhliche Menschen sehen im Tod eine Bezahlung, denn sie hängen bis zur letzten Minute am irdischen Leben, welches ihnen nur als Leihgabe mitgegeben wurde, und alles Geliehene muss man eines Tages zurückgeben. Übrigens trifft der Tod alle Menschen, früher oder später, und es gibt Menschen, die gönnen anderen selbst im Jenseits keine Ruhe. Es ist nämlich schwierig, einem Mörder, einem Kriminellen, einem Straftäter ein gutes Leben nach dem Tod zu gönnen, wenn man einen Menschen an einen Mörder verloren hat, oder wenn der ärgste Erzfeind verstirbt. Und dennoch gibt es Gott sei Dank viele Menschen, die verzeihen und vergeben können. Sie gönnen jedem Menschen seinen Seelenfrieden, wenn er stirbt. Hass, Verurteilung und Ärger hat noch niemandem etwas Positives gebracht.
Über all diese Themen spricht man in einem Death Cafe, inmitten von Kaffee und Kuchen, mitten in einer ausgelassenen Kaffeehaus-Atmosphäre, welche doch sehr beklemmend wirkt, besonders dann, wenn man tief trauert. So ein Death-Cafe kann eine Seelenreinigung sein, denn in der Gemeinschaft trauert man leichter und ist nachher unbeschwerter. Die schweren Steine gleiten vom Herzen weg und öffnen uns die Tür zu einem neuen Bewusstsein. Man kann leichter loslassen, den Verstorbenen schneller gehen lassen. Übrigens sollte man die Toten wirklich ruhen lassen und nicht krampfhaft mit all seinen Gedanken festhalten. Wer an die Theorie des Lichts am Ende des Totentunnels glaubt, der weiss, dass unsere hartnäckigen, trüben Gedanken die Toten wie Zombies am Leben halten, weil sie nicht ins Licht gehen können. Wer an gar nichts glaubt, ist in der glücklichen Situation, den Tod besser zu akzeptieren, und wer an Gott glaubt, der ahnt, dass das Leben für die Hinterbliebenen weitergeht, weil der Verstorbene einfach schon einmal vorausgegangen ist und im Jenseits geduldig wartet. Auch dies ist eine individuelle Sache, die jeder Mensch für sich selber regeln muss.
Ob man so ein Death-Cafe als Geschmacklosigkeit abtun sollte, bezweifle ich, denn es hilft vielen Menschen, über das Sterben, den Tod, unsere Endlichkeit zu sprechen. Wer schweigend seine Trauer in sich hineinfrisst, beginnt vielleicht im realen Leben auch zu futtern und zu fressen, wird dick und unförmig, verliert den Halt im Leben, zieht sich zurück, igelt sich ein, verliert die Lebenslust und damit viele potentielle Freunde, Bekannte, Wegbegleiter. Er verliert quasi sein eigenes Leben. Und deshalb ist es oft besser, man trauert in der Gemeinschaft, findet Gleichgesinnte, offenherzige und tolerante Menschen, welche die Trauer auch zulassen, denn es gibt nichts Schlimmeres für einen Hinterbliebenen, als die Tatsache, entweder nicht trauern zu können, oder nicht trauern zu dürfen. Ohne ausgelebte Trauer stirbt man selber einen kleinen Tod, und damit ist jetzt nicht der nächtliche Schlaf gemeint, sondern das pure Leben, welches man verliert, wenn man sich nicht mehr freuen kann, weil man nicht getrauert hat.
Das Death-Cafe ist auch eine gute Location für Menschen, die sich mit ihrem eigenen Tod, mit dem Sterben allgemein beschäftigen. Man verliert in der Gemeinschaft die Angst vor dem Tod. Man hört andere Meinungen, erkennt mögliche Chancen, sein Leben besser zu nutzen, und man weiss, man stirbt nicht alleine, alle sterben irgendwann. Im Grunde geht es im Leben darum, das Beste aus seinem Alltag zu machen, das Leben auszukosten, es zu leben, denn wofür ist es uns sonst gegeben worden. Es ist meiner Meinung nach Unsinn, nicht sehr sinnvoll, sein Leben wegzuwerfen, sich einzuigeln und aggressiv bis ängstlich zu sein, den Menschen nicht zu vertrauen, überall das Schlechte zu sehen und nur noch auf sich selbst gestellt zu sein. Solche Menschen sind auch für die Umwelt, für die Mitmenschen schwer zu ertragen, obwohl sie Hilfe bräuchten, aber man distanziert sich von ihnen, weil man ihre Negativität nicht erträgt. Das Leben ist dafür da, gekostet zu werden, denn es schmeckt wie ein Stück vom grossen Kuchen, wie eine Tasse heisser Kaffee, dessen Duft die Nase betört, und so ist ein Death-Cafe ein Stück Leben, ein Tortenstück vom Leben, welches man auch in Zeiten der Trauer kosten darf.